Einordnung eines Produkts als Arzneimittel oder Medizinprodukt: Zum Urteil des EuGH vom 19. Januar 2023 (C‑495/21)
Die Abgrenzung zwischen Arzneimitteln und Medizinprodukten stellt sowohl für Hersteller als auch für Vertreiber eine erhebliche Herausforderung dar. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens mit grundlegenden Fragen dieser Abgrenzungsproblematik zu befassen, ohne jedoch abschließende Rechtsklarheit zu schaffen.
Sachverhalt
Ausgangspunkt des Verfahrens war ein Feststellungsbescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), mit dem ein von der Klägerin als Medizinprodukt in den Verkehr gebrachtes Nasenspray als zulassungspflichtiges Arzneimittel eingestuft wurde. Das BfArM sah das Erzeugnis als Präsentationsarzneimittel im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG an.
Sowohl das Verwaltungsgericht Köln als auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen wiesen die gegen die Einstufung gerichtete Klage sowie die Berufung zurück. Beide Gerichte vertraten die Auffassung, ein Präsentationsarzneimittel könne auch dann vorliegen, wenn ein Produkt formell als Medizinprodukt auf den Markt gebracht werde. Sofern das Erzeugnis sowohl unter die Definition eines Arzneimittels als auch unter die eines Medizinprodukts falle, finde gemäß der Zweifelsfallregelung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG ausschließlich das Arzneimittelrecht Anwendung. Der für eine Einstufung als Medizinprodukt erforderliche Nachweis einer nicht-pharmakologischen Hauptwirkung sei von der Klägerin nicht erbracht worden.
Die Klägerin legte Revision zum Bundesverwaltungsgericht ein, das das Verfahren aussetzte und dem EuGH mehrere Vorlagefragen unterbreitete. Gegenstand dieser Vorlage war insbesondere die Klärung, nach welchen Kriterien zwischen pharmakologischen und nicht-pharmakologischen Wirkungen zu unterscheiden ist (1. Vorlagefrage), ob ein Erzeugnis trotz unklarer Hauptwirkung als Medizinprodukt eingestuft werden kann (2. und 3. Vorlagefrage) sowie ob die Zweifelsfallregelung auch auf Präsentationsarzneimittel Anwendung findet (4. Vorlagefrage).
Der EuGH äußerte sich zunächst zur vierten Vorlagefrage und stellte klar, dass Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG auch auf Präsentationsarzneimittel Anwendung finde. Dies folge aus dem Wortlaut der Vorschrift, wonach der Begriff „Arzneimittel“ gemäß Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie auch Präsentationsarzneimittel einschließe.
In Bezug auf die zweite und dritte Vorlagefrage stellte der EuGH klar, dass ein Erzeugnis nur dann als Medizinprodukt einzustufen sei, wenn seine bestimmungsgemäße Hauptwirkung im oder am menschlichen Körper nicht durch pharmakologische, immunologische oder metabolische Mechanismen erreicht wird. Der Nachweis dieser Voraussetzungen obliege dem Hersteller. Anders als Arzneimittel, die einer Genehmigung bedürfen, würden Medizinprodukte im Rahmen eines deklaratorischen Verfahrens in Verkehr gebracht, was durch die vermutete geringere Gefährlichkeit gerechtfertigt sei. Fehle es jedoch an hinreichenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Hauptwirkung, könne das Produkt nicht als Medizinprodukt qualifiziert werden.
Ferner bekräftigte der EuGH, dass die Zweifelsfallregelung des Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2001/83/EG gleichermaßen auf Präsentations- und Funktionsarzneimittel Anwendung finde. Für die Einstufung als Präsentationsarzneimittel sei entscheidend, ob beim durchschnittlich informierten Verbraucher aufgrund der Aufmachung der Eindruck entstehe, es handele sich um ein Mittel zur Heilung oder Verhütung menschlicher Krankheiten. Die Beurteilung, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, obliege den nationalen Gerichten.
Hinsichtlich der ersten Vorlagefrage sah der EuGH von einer Beantwortung ab. Aufgrund der Ausführungen zu den weiteren Vorlagefragen sei eine zusätzliche Unterscheidung zwischen pharmakologischen und nicht-pharmakologischen Wirkmechanismen nicht erforderlich.
Bewertung
Die Entscheidung des EuGH bestätigt die bislang bestehenden Abgrenzungskriterien, vermag jedoch keine weitergehende Klarheit für betroffene Unternehmen zu schaffen. Zwar bekräftigt das Urteil die Geltung der Zweifelsfallregelung auch im Bereich der Präsentationsarzneimittel, eine Konkretisierung der Anforderungen an den Nachweis der Hauptwirkung unterbleibt jedoch.
Die Anwendung der Zweifelsfallregelung erscheint im Lichte des gesetzgeberischen Ziels, die Sicherheit und Wirksamkeit von Produkten zu gewährleisten, folgerichtig. Gleichwohl ergibt sich hieraus eine erhebliche Unsicherheit für Unternehmen, deren Produkte sich nicht eindeutig einer Kategorie zuordnen lassen. Da es regelmäßig an gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Bestimmung der Hauptwirkung fehlt, dürften sogenannte Grenzprodukte künftig vermehrt als Arzneimittel einzuordnen sein.
Hilfestellung bietet insoweit der Leitfaden der Medical Device Coordination Group (MDCG), der zentrale unbestimmte Rechtsbegriffe näher erläutert. Gleichwohl enthält auch dieser keine verbindlichen Vorgaben zu den Nachweisanforderungen. Solange kein zweifelsfreier Beleg für eine nicht-pharmakologische Hauptwirkung vorliegt, wird eine Einordnung als Medizinprodukt durch das BfArM regelmäßig nicht akzeptiert werden.